Grafik: medio.tv/Fricke
Gedanken zum Monatsspruch Juni 2025
Wenn Gott die Hocker aufstellt
„Jeder ist willkommen.“ – so lautet der Vorschlag der Arbeitsgruppe für das Gottesdienst-Plakat zum Christopher Street Day (CSD). Als Gedenktag steht der CSD für die Rechte und Toleranz jedweder
Form von Liebe und Identifikation. Ich protestiere zunächst. „Das würde ja bedeuten, dass bei uns in der Kirche nicht grundsätzlich jeder willkommen ist.“ Und von genau diesen Momenten des
Nicht-Willkommen-Seins bekomme ich zu hören. Sie erzählen von abschätzigen Blicken, von Seitenkommentaren, von Menschen, die ihnen in der Kirche zuraunen, dass sie hier nicht hingehören.
Es macht mich traurig und nachdenklich zugleich. Wann ist das passiert, dass sich nicht mehr alle in der Kirche willkommen fühlen? Oder ist es noch nie so gewesen? Sagen wir einfach: „Jeder ist
willkommen“ und meinen tief im Inneren etwas anderes?
Was ich an der Kirche in unserer Gemeinde so liebe, ist ihre Bauweise: man kann 1-2 Wände aufschieben und den Gottesdienstraum vergrößern. Dann werden Stuhlreihen
gestellt und für Heilig Abend die letzten Klapphocker aus der Kammer geholt. Wenn der Gottesdienstraum dann aus allen Nähten platzt und einige stehen müssen, habe ich das Gefühl, dass jeder und
jede willkommen ist.
Wie könnten wir das nicht nur baulich, sondern auch innerlich, umsetzen? Wie könnten wir in unseren Gemeinden deutlich machen, dass die Angst vor dem Anderen nicht
das letzte Wort hat, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit stark machen? Wie können wir verhindern, dass wir als Kirche um uns selbst kreisen: um unsere Prozesse, unsere
Sorgen, um unsere Erschöpfung, sondern der Liebe Jesu Raum geben?
Ein Freund schickt mir Gedanken zum Thema „Liebe“ und schreibt: „Und gerade da, wo Liebe eingeschränkt wird und Menschen sich verbünden und den Hass überwinden, da
entsteht oft diese besondere Form der Liebe: Philia. Freundschaft. Solidarität. Auch das ist eine göttliche Kraft. Einander lieben als Freund*innen, Wegstrecke teilen, geben und nehmen, sich
begleiten durch alles, was das Leben so mit sich bringt und dabei zusammenwachsen.“
Den Gedanken möchte ich in den Juni mitnehmen, der so viel bereithält: den Weltflüchtlingstag, den Pride-Month. Es ist auch meine Aufgabe, dass sich jeder und jede
willkommen fühlt. Wir schreiben „Du bist willkommen!“ auf das Plakat und ich stelle mir vor, wie Gott selbst noch ein paar Hocker aus der Kammer holt, damit alle einen Platz bei ihm haben.
Pfarrerin Julia Kaiser
Künzell